(Anm. d. Aut.: Dieser Text ist ein Auszug aus meiner im Sommersemester 2019 verfassten und mit 1,0 bewerteten Masterarbeit. Er wurde seitdem nicht verändert und entspricht dem damaligen Stand.)
Das Jahr 1992 kann als eine Art „Schicksalsjahr“ für den modernen britischen Euroskeptizismus betrachtet werden. Am 7. Februar unterzeichnet Großbritannien, mittlerweile von Thatchers Parteikollegen John Major regiert, den „Vertrag von Maastricht“, der die Gründung der Europäischen Union als Dachorganisation der bisherigen Gemeinschaften besiegelte und neben der Einrichtung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) unter anderem die konkrete Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) vorsah, an deren Ende der Euro als gemeinsame Unionswährung stehen sollte.[1] Gemeinsam mit dem Europäischen Binnenmarkt, der zum 1. Januar 1993 in Kraft trat, machte der Europäische Integrationsprozess einen großen Schritt in Richtung Vollendung – und vor dem Hintergrund des politischen Umsturzes in Osteuropa nach dem Zerfall der Sowjetunion sogar in Richtung einer gesamteuropäischen Einigung. Diese neue Dynamik führte bei einigen Spitzenpolitikern wie dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) zu neuen Träumen von den „Vereinigten Staaten von Europa“ – während Major selbst den Maastricht-Vertrag als einen ohne föderale Absichten auf europäischer Ebene im eigenen Land beworben hatte.[2]
Dass Europa nun doch zum befürchteten Superstaat werden könnte, löste innerhalb der Conservative Party teils massive Probleme aus: Die Unionsbürgerschaft mit bestimmten Rechten für jeden Bürger in jedem Mitgliedsland und die Ausweitung der politischen Macht der EU über ihre Mitglieder durch die GASP oder die Sozialpolitik galten bei den euroskeptischen Tory-Abgeordneten als zu viel Integration. Dass Major zuvor opt-outs für die Sozialcharta, die WWU und die gemeinsame Währung erzielt hatte, sorgte kaum für Besänftigung. Im Streit mit den parteiinternen „Maastricht-Rebellen“ verknüpfte Major die Ratifikation des Maastricht-Vertrags mit einem Misstrauensvotum – und siegte am 23. Juli 1993 mit gerade einmal 319 zu 316 Stimmen.[3] Im Manifest zur Unterhauswahl vom April 1992 warben die Tories noch damit, dass ihre Politik Großbritanniens Platz im „Herzen Europas“ gesichert habe.
Kurz darauf war aus Großbritannien eine „postimperiale, euroskeptische Nation“ geworden, schlussfolgerte der US-Diplomat und frühere Professor für Internationale Beziehungen Benjamin Grob-Fitzgibbon 2016.[4]
Doch nicht nur die Maastricht-Debatte hatte für Missstimmung gegenüber John Majors Politik gesorgt. Am 16. September 1992 musste Großbritannien das Europäische Währungssystem wieder verlassen, dem man erst zwei Jahre zuvor beigetreten war. Über den Wechselkursmechanismus war das britische Pfund Sterling an die Deutsche Mark gekoppelt, galt jedoch inflationsbedingt als überbewertet.[5] Zunächst hatte die Regierung noch versucht, das Pfund um jeden Preis im Wechselkursmechanismus zu halten und kündigte daher eine Erhöhung der Zinsen auf 15 Prozent an – ohne den Kursverfall damit stoppen zu können.[6] An eine einheitliche europäische Währung mit britischer Beteiligung war nicht mehr zu denken. Diese Umstände führten insgesamt zur Bildung neuer, euroskeptischer Parteien in Großbritannien. 1993 trat zunächst die UKIP hervor, die ihre größte Zeit rund um das „Brexit“-Referendum 2016 unter Parteichef Nigel Farage erleben sollte.[7] Farage selbst gab später zu, dass es ohne das britische Ja zum Maastricht-Vertrag die UKIP wohl nie gegeben hätte.[8] Der Unternehmer James Goldsmith gründete 1994 die Referendum Party, deren einziges Ziel ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft war.[9] Eine solche Volksabstimmungen hatte die Regierung Major zwar 1994 in einem internen Papier für möglich erachtet, aber nicht umgesetzt.[10]
Nach dem erneuten Machtwechsel von der Conservative Party zu Labour stimmte die Regierung unter Tony Blair den EU-Änderungsverträgen von Amsterdam (1997) und Nizza (2001) ohne Widerstände zu, am 1999 eingeführten Euro beteiligte sich Großbritannien dagegen mit Verweis auf das Opt-Out nicht. Vor der Wahl 1997 hatte Labour zwar ein Euro-Referendum für den Falle eines Wahlsiegs angekündigt, doch war es vor allem die Angst vor negativer Berichterstattung in den meinungs- und reichweitenstarken Medien von Rupert Murdoch, die den eigentlich Euro-freundlich eingestellten Blair von diesem Kurs abrücken ließ. Durch dieses taktische Mittel erhoffte sich Tony Blair offenbar bessere Chancen, medial in positivem Licht auftreten zu können und gegenüber den Tories aufzutrumpfen.[11]
Im Zuge der Verhandlungen über eine Europäische Verfassung gelang der UKIP bei den EU-Parlamentswahlen 2004 der Gewinn von 12 Mandaten in Brüssel – mit 16,2 Prozent der Stimmen gelang der euroskeptischen Partei sogar der Sprung auf Platz drei in Großbritannien.[12] Im gleichen Jahr kündigte Blair ein Referendum über die Ratifizierung des Verfassungsvertrages an – doch weil solche Referenden in den Niederlanden und Frankreich scheiterten, kam es in Großbritannien gar nicht erst dazu.[13] Vor allem innerhalb der Conservative Party blühten Ängste in Bezug auf einen möglichen europäischen Superstaat von Brüssel aus wieder auf. Das galt auch im Hinblick auf die Osterweiterung der EU, die sich allein zwischen 2004 und 2007 um zwölf Staaten vergrößerte, die sich dadurch anbahnende Migrationsdebatte[14], sowie sicherheitspolitische Bedenken nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA und London vom 7. Juli 2005. Bis hierhin galt Labours Migrationspolitik als offen und locker im europäischen Vergleich, das wohlhabende Großbritannien sollte plangemäß von den multikulturellen Einflüssen profitieren.[15] Am Ende seiner Amtszeit 2007 konnte Blair durchaus größere nationale Erfolge vorweisen: Zwischen 1998 und 2006 wuchs die britische Wirtschaft beispielsweise im Durchschnitt um 2,8 Prozent jährlich. Kritiker warfen dem Premierminister dagegen unter anderem vor, dass Großbritannien zu viele Schulden aufgebaut habe und dass das Bildungs- und Gesundheitssystem dringen reformiert werden müsse.[16] Wenngleich Großbritanniens Einfluss in der EU unter Tony Blair leicht gewachsen zu sein schien, einen „Gamechanger“ im Verhältnis zwischen dem UK und der EU vermochte auch der Sozialdemokrat nicht zu entwickeln – dafür zumindest aber war das Thema EU-Mitgliedschaft in Großbritannien kein heißes mehr, ehe David Cameron 2010 das Amt des Premierministers wieder zurück in die Hände der Konservativen holen konnte.
[1] Maurer, Andreas: Vertrag von Maastricht, in: Wehling/Große Hüttmann (Hrsg.): Das Europalexikon, S. 376 – 377.
[2] Adam, Rudolf G.: Brexit, S. 36 – 37.
[3] Adam, Rudolf G.: Brexit, S. 36 – 37 u. Black, Jeremy: A History of Britain, S: 218 – 219.
[4] Grob-Fitzgibbon, Benjamin: Continental Drift, S. 460.
[5] Black, Jeremy: A History of Britain, S: 216 – 220.
[6] Unbekannter Autor: Großbritannien setzt Mitgliedschaft im Europäischen Währungssystem aus, in: Süddeutsche Zeitung (17.9.1992), Unbekannte Seite, SZ-Archiv: A141776.
[7] Wellings, Ben: English Nationalism, Brexit and the Anglosphere. Wider still and wider, Manchester 2019, S. 36 – 38.
[8] Zabel, Malte: Euroskeptizismus, S. 275.
[9] Kröncke, Gerd: Sir James Goldsmith. Milliardär, Europagegner und Parteigründer, in: Süddeutsche Zeitung (17.6.1996), Seite 4, SZ-Archiv: A3678473.
[10] Bowcott, Owen: John Major’s cabinet considered holding EU vote, papers reveal, in: The Guardian (28.12.2018), abgerufen unter: https://www.theguardian.com/uk-news/2018/dec/28/john-major-cabinet-considered-eu-referendum-1994-national-archives (zuletzt abgerufen: 18.9.2019).
[11] Liddle, Roger: The Europe Dilemma, S. 46 – 47.
[12] Mellows-Facer, Adam/Cracknell, Richard/Yonwin, Jessica: European Parliament elections 2004, Research Paper 04/50, 23. Juni 2004, House of Commons Library, London 2004, S. 11.
[13] Liddle, Roger: The Europe Dilemma, S. 136.
[14] Adam, Rudolf G.: Brexit, S. 42 – 44.
[15] Black, Jeremy: A History of Britain, S: 176 – 178.
[16] Krönig, Jürgen: »Reformiert euch oder sterbt«, in: Die Zeit (21/2007), abgerufen unter: https://www-1wiso-2net-1de-100ca54ip341a.emedien3.sub.uni-hamburg.de/document/ZEIT__0507160018%7CZEIA__0507160018 (zuletzt abgerufen: 18.9.2019) u. Thibaut, Matthias: Demontage eines Hoffnungsträgers, in: Handelsblatt (21.3.2007), S. 6.